Die Verteidigung von Mittelerde – Zum 130. Geburtstag von JRR Tolkien

Autorius: Gast Autor Šaltinis: https://www.compact-online.de/... 2022-01-04 19:05:00, skaitė 649, komentavo 0

Die Verteidigung von Mittelerde – Zum 130. Geburtstag von JRR Tolkien

Er erinnerte in seinen Romanen an die Mythen, die das germanisch-keltische Europa vor Einbruch der industriellen Sklaverei prägten. Elben und Zwerge, Orks und Trolle, Zauberer und Ents repräsentieren für ihn die verschiedenen Seiten der Menschlichkeit. Vor 130 Jahren wurde JRR Tolkien geboren, der Schöpfer von „Herr der Ringe“. Unsere Sonderausgabe Mythisches Deutschland entführt Sie in die Götter- und Sagenwelt der Germanen. Hier bestellen.

_ von Utz Anhalt

John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) begründete die moderne Fantasy. „Die Menschen kommen und gehen, aber die Geschichten hören niemals auf. Sie mögen dem zustimmen oder nicht, aber das ist der Schlüssel zum Herrn der Ringe“, sagte Tolkien. Er sah Mittelerde nicht als Weltflucht an, sondern als erzählte Geschichte. Tolkien litt darunter, dass es zwar eine keltische und skandinavische, aber, abgesehen von der Artus-Sage, keine genuin englische Mythologie gab. Er wollte ausdrücklich diese Mythologie schaffen, eine Geschichte der Völker, die England prägten, der Germanen und Kelten, der Wikinger und Angelsachsen, Walliser und Scoten, Pikten und Skandinavier.

Liebe zum ländlichen England

Der Herr der Ringe (1954/55) wurde zu einem der erfolgreichsten Bücher der Moderne, orientiert sich jedoch an alten Mythen. Tolkiens Mythologie erschien als Silmarillion erst nach seinem Tod. Der Hobbit von 1937 spielte allerdings bereits in der von ihm gedachten Welt. Der Professor rückte in diesem Kinderbuch indes seine eigene Mittelerde in den Hintergrund und orientierte sich an den Figuren des englischen Märchens. Der Junge wuchs in Südafrika auf, zog aber 1895 mit seiner Mutter nach Sarehole, einen Vorort von Birmingham.

Tolkien lernte hier das industrielle ebenso wie das ländliche England kennen, und das Leben der einfachen Leute wurde das Herz der Figur, die ihn berühmt machte: Ein gemütlicher, zur Korpulenz neigender Pfeifenraucher, dem Veränderung zuwider ist. Abenteuer betrachtet dieses Wesen des ländlichen Englands als obszön; es lebt in Frieden in seiner Höhle, trinkt und isst gerne und reichlich. Tolkien ließ den britischen Hill-Bill auf Kindergröße schrumpfen, ersetzte die Hauspantoffeln durch wetterfeste Riesenfüße und schuf so den Hobbit. Er selbst sei ein Hobbit, betonte der Schriftsteller.

Die kleinen Leute werden in den Hobbits auch körperlich klein. Niemand in Mittelerde kennt sie. Sie sind nicht stark, nicht mächtig und nicht groß. Frodo mag keine Abenteuer, aber er stellt sich der Verantwortung und kämpft gegen das Böse.

Fantasie und Realität

Das Auenland ist eine Hommage an das ländliche England, das Tolkien liebte. Auch die Grafschaft Warwickshire, in der der Professor aufwuchs, bestand aus grünen Auen, die das Hochwasser überflutet. Die Seen seiner Heimat, die Mühle von Sarehole und die Wälder, in denen Tolkien umherstreifte, tauchen wieder auf im verzauberten Lothlórien, im verfluchten Alten Wald und in den Urwäldern des Nebelgebirges. Tolkiens Mutter konvertierte 1900 zum katholischen Glauben. Mit dieser Erziehung war der Junge im protestantischen England ein Exot. Katholische Vorstellungen treten als Grundmotive in seinem Universum auf.

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Die Behausung eines Hobbits am neuseeländischen Filmset von “Der Herr der Ringe“. Foto: Timo Kaestner I Shutterstock.com.

1904 starb die Mutter, der Zwölfjährige suchte Halt im Glauben. Der Schock formte im Jungen eine düstere Sicht auf die Welt: Er sah sie vom Bösen beherrscht. Die Guten konnten es abwehren, niemals aber beenden. Die Hobbits sind klein wie Kinder und ebenso unschuldig. Sie spiegeln Tolkiens Kindheit. Wie bei Frodo, der wider Willen aus seinem Idyll ins dunkle Mordor zieht, begann die Pubertät, der Aufbruch in die Welt draußen, für den Schriftsteller böse. Der Tod der Mutter und die verseuchte Luft der Industriestädte traten an die Stelle der Wälder und Auen.

Tolkiens Werk durchzieht ein traurig-schönes Motiv, nämlich die Erinnerung als das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Nach dem Sieg über Mordor kehren Frodo und Sam in ihr geliebtes Auenland zurück. Grischma Schlangenzunge und Saruman sind militärisch besiegt. „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Dann kommt der Krieg zu euch“, ließe sich mit Bertolt Brecht sagen.

Zurück in das Paradies der Kindheit

Der Zauberer und die Schlange haben das vormoderne Idyll in ein industrielles Arbeitslager verwandelt und die Hobbits, die das Böse nicht kannten, versklavt. Mit Kriegern und Zauberern Mittelerde zu retten, ist eine Sache. Erst zuhause im Auenland jedoch beweist Frodo, dass er wirklich ein Held ist. Unter seiner Führung befreien sich die kleinen Leute von ihren Unterdrückern. Sam zieht in das Auenland zurück und wird glücklich. Sein Herr Frodo trug die Last des Rings der Macht. Er hat das Böse gesehen. Er hat die Unschuld verloren und muss sein Paradies für immer verlassen, so wie der junge Tolkien nicht zurück in seine Kindheit konnte.

1937 erschien Der Hobbit und erntete großes Lob. Die New York Herald Tribune adelte das Werk als Kinderbuch des Jahres 1938. Nach dem Weltkrieg wurde der Hobbit zum Weltbestseller. Der Kleine mit den großen Füßen entstand ausschließlich im Kopf des Schriftstellers. Wie aber sieht es mit Mittelerde aus? Der Katholik Tolkien war tief gläubig, und hier liegt der Schlüssel zu seiner Mittelerde, die mit Weltflucht wenig zu tun hat. Mythen zeigen laut Tolkien die verborgenen Wahrheiten der Geschichte. Märchen waren ihm keine Trugbilder, sondern eine Möglichkeit, Idee und Ergebnis zu verbinden. Elben und Zwerge, Orks und Trolle, Zauberer und Ents repräsentieren die verschiedenen Seiten der Menschlichkeit.

Middangeard, Mittelerde, ist in der Mythologie des Nordens die mittlere Welt, die Welt der Menschen. Hier sind die Wesen sterblich, Menschen wie Elben, Zwerge wie Riesen. Tolkien sah in Mittelerde das historische Skandinavien und Britannien. Midgardur in Island, Midgard in Schweden und Mittelerde in Deutschland bezeichneten bei den Germanen die Menschenwelt.

In Mittelerde flossen indes christliche Vorstellungen ein, was dem Katholiken Tolkien wohl gefiel. Der Missionar Wulfila übersetzte nämlich Bibelstellen in das Gotische. Das lateinische orbis terrae wurde so zu Midjungards. Das Ende der Welt der Germanen war prinnit mittilagart, der Brand von Mittelerde. Die heidnischen Nordgermanen glaubten weiter an Odin, und Mittelerde blieb ihnen ein mythischer Ort. Im heutigen Deutschland und England wurde Midgard die reale Welt. Der deutsche Garten und das englische Yard haben hier ihren Ursprung. Midgard war also für erlebbare Fantasy wie geschaffen: Mythisch und präsent, wirklich und unwirklich zugleich trug es das diesseitige Abenteuer in sich.

Anderswelten

Asgard, die germanische Götterwelt, erscheint als Valinor im Universum Tolkiens. Die Welt der Asen wurde zur Welt der Valar. Asgard, die Heimat der Asen, ist die obere Welt im germanischen Kosmos. Die Zeit der Götter verläuft langsamer, das Dunkle findet hier keinen Zutritt. In dieser Welt hat jeder Gott seinen Hof. Eine Mauer umschließt das Götterheim. Ebenso leben die Valar bei Tolkien in einzelnen Häusern, und Pelóri umgrenzt Valinor.

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Ein Heer übernatürlicher Wesen erstürmt den Himmel. In der Mythologie ist das Phänomen als «Wilde Jagd» bekannt. Ölgemälde Åsgårdsreien (1872) von Peter Nicolai Arbo (1831–1892). Tolkiens Werk knüpft an solche mythischen Vorstellungen an. Bild: Public domain, Wikimedia commons.

Ein Regenbogen bildet die Brücke zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen. Albheim ist die Heimat der Licht-Alben im germanischen Kosmos. Die leben mit den Asen (Aesir) zusammen als Meisterhandwerker und übermächtige Krieger zugleich. Die lichten Elben leben auch bei Tolkien in Valinor, wohin die Gefährten des Rings am Ende ziehen. Diesen Elben widmete Tolkien eine eigene, an das Finnisch angelehnte Sprache, das Quenya. Albheim wurde zu Eldamar. Nicht die Germanen, sondern Tolkien erfand die Elben der modernen Fantasy. Nilfheim war das Land des Nordens, eine mythische Arktis der Germanen. Unter dem ewigen Eis lag Hel, die germanische Unterwelt.

Angband bei Tolkien hat vieles mit diesem Nilfheim gemeinsam. Morgoth, der dunkle Feind, errichtete das Angband, den „Eisenkerker“. Doch zuvor baute er die Festung Utumno, wo er die Balrogs ausbildete, Riesenspinnen und Orks schuf. Wie Nilfheim liegt Angband im Hohen Norden. Der Eisenkerker war ein gewaltiges Höhlenreich, gefüllt mit Folterverliesen, Fabriken und Bergstollen, eine düstere Industriezentrale, wie Tolkien sie so hasste. Sauron, ein niederer Gott, sollte Utumno gegen die Valar schützen. Doch die überwanden Morgoth und schmiedeten ihn in Ketten. Die Höhlen Angbands aber blieben unzerstört und die Wesen der Dunkelheit breiteten sich in seinen Schächten aus, Orks und Trolle, Drachen und Balrogs.

Weltenschöpfer Tolkien

Svatralfheim: Die Alben der Germanen waren keine lieblichen Wesen mit Libellenflügeln. Der Albtraum verweist noch heute darauf, dass es sich bei den dunklen Alben um garstige Monster handelte. Sie stahlen den Müttern die Kinder und legten ihre Wechselbälger in die Wiege. Im Mittelalter glaubten die Menschen, dass der Teufel selbst von diesen Kuckuckskindern Besitz ergreife. Die Elben der Kelten hingegen waren die Geister ihrer Ahnen. Deshalb lebten sie in den Elbenhügeln, den Hünengräbern. Die Elben im Hobbit lehnen sich an diese Figuren an, die in den „fairy tales“ („Feen-Geschichten“) weiterexistierten.

Die Dunkelelben setzte der Professor als Gegenpol zu den Elben in Valinor ein. Sie leben aber nicht unter der Erde wie die verschrumpelten Albträume der Germanen, sondern im Wald. Sie sind auch nicht wirklich böse, aber von den Kriegen Mittelerdes gezeichnet. Die Lichtelben dagegen bevölkern das göttliche Paradies, widmen sich Dichtung und Kunst. An die Dunkel- oder Schwarzalben der germanischen Mythologie erinnern indessen Tolkiens Orks. Diese Elben waren unter den Einfluss des dunklen Feindes geraten. Sprache schafft den Menschen; in diesem Punkt war sich der Professor aus Oxford mit den Kelten und Wikingern der britischen Inseln einig. Tolkien übertrug die zeitlosen Wahrheiten des Mythos in eine moderne Erzählung. Generation für Generation der schnelllebigen Postmoderne entdeckt den Hobbit und Herrn der Ringe von neuem. Der Schriftsteller wurde selbst zum Weltenschöpfer und schuf einen eigenen Kosmos.

Der Text erschien erstmals in COMPACT 11/2013

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