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Zwei Personen mit Luftballons mit der Aufschrift "freies Palästina" und "terroristisches Israel", die während einer Demonstration auf dem Weg nach Sultanahmet an McDonald's vorbeikamen (Istanbul, 12. November 2023)
Von Tom J. Wellbrock
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu bevorzugt klare Worte. Gerichtet waren sie an die Amerikaner, aber letztlich an die ganze Welt, abgesehen von den Muslimen:
"Wir müssen siegen, um Israel zu schützen. Wir müssen siegen, um den Nahen Osten zu schützen. Wir müssen um der zivilisierten Welt willen gewinnen. Das ist der Kampf, den wir führen, und er wird gerade jetzt ausgetragen. Es gibt keinen Ersatz für diesen Sieg. Wenn wir jetzt nicht gewinnen, ist Europa der Nächste und Sie sind der Nächste."
Das war Mitte November. Es zeigt die Geisteshaltung Netanjahus, aber es macht auch deutlich, dass es ein weltweites Problem gibt – zwischen dem "werteorientierten Westen" und dem Islam. Netanjahu und seine Denkschule täten gut daran, die Situation nüchtern zu betrachten. In ihrem eigenen Interesse.
Der Islam auf dem Vormarsch
Am 17. Januar 2021 schrieb das ZDF:
"Nach wie vor haben die Weltreligionen einen hohen Stellenwert. Die Zahl der gläubigen Menschen wächst, am stärksten im Islam. In Deutschland aber nehmen die Kirchenaustritte zu.
Während man in Europa und besonders in Deutschland in den letzten Jahren eine Tendenz zur Glaubens-Abkehr feststellen kann, sieht es weltweit anders aus: Die Anzahl der Gläubigen nimmt zu."
Bis heute hat sich an dieser Entwicklung nichts geändert, im Gegenteil. Während die Kirchen in Deutschland und anderswo Austritte und eine Abkehr vom Glauben beklagen, findet der Islam kontinuierlich Zulauf. Ebenfalls in dem Artikel des ZDF lesen wir:
"In vielen afrikanischen Ländern zum Beispiel hat Religion eine große Bedeutung, die Bevölkerung hat ein junges Durchschnittsalter, das Bevölkerungswachstum ist in diesen Ländern am höchsten. Weltweit wächst die Zahl der Muslime am schnellsten. Auch das Christentum wächst, aber langsamer.
Im Jahr 2060, so prognostiziert das Pew Research Center, werde es weltweit fast so viele Muslime wie Christen geben. So stellten laut dem Forschungsinstitut Christen im Jahr 2015 31,2 Prozent der Weltbevölkerung, Muslime 24,1 Prozent. Für 2060 rechnet es mit 31,1 Prozent Muslime und 31,8 Prozent Christen."
Nun ist es lediglich eine Prognose, aber zeichnet sich ab, was derzeit zu sehen ist, dürfte der Anteil der Muslime bis 2060 weiter wachsen. Während das Christentum stagniert oder zurückgehen wird, gibt es keine grundlegende neue Tendenz.
Statista schrieb am 5. Mai 2023:
"Der Islam gehört unzweifelhaft zu Deutschland: Rund 5,5 Millionen Menschen aller muslimischen Glaubensrichtungen leben in Deutschland, womit der Islam hierzulande die drittgrößte Glaubensgemeinschaft darstellt. Dieser Weltreligion gehören dabei insgesamt etwa 1,9 Milliarden Menschen an, was einem Anteil von etwa einem Viertel der Weltbevölkerung entspricht – mit steigender Tendenz. Bis heute gibt es allerdings nur wenige strukturierte Studien und Erhebungen zum Islam und den Muslimen, weswegen bei einigen Angaben auf mit Unsicherheiten behaftete Schätzungen oder Prognosen zurückgegriffen werden muss."
Fast zwei Milliarden Muslime weltweit, wobei eingeräumt wird, dass diesen Angaben Unsicherheiten innewohnen – es könnten also auch weniger oder mehr sein. In jedem Fall geht vom Islam eine nicht zu unterschätzende Macht aus.
Zerstören? Auslöschen?
Wenn es nach Netanjahu geht, bombt Israel alles in Grund und Boden, was er als Gefahr für seinen Staat ansieht. Aktuell sieht man, dass er es ernst meint. In Deutschland hat Netanjahu keine Gegenwehr zu erwarten. Das Töten von Zivilisten, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, wird unter der Rubrik "Selbstverteidigung" abgehakt, die Israel zustehe. Punkt.
Das obige Zitat belegt, dass der israelische Premierminister bereit ist, noch weiter zugehen. Die Zerstörung der Hamas scheint nur Teil eines größeren Plans zu sein. Netanjahu sieht überall Feinde, die ihn, den Westen, die ganze Welt bedrohen. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock (die Grünen) – ohnehin bekannt für ihre schlichten und kurzsichtigen Analysen – besteht darauf, dass es ohne die Zerstörung der Hamas im Nahen Osten keinen Frieden geben könne.
Beide machen einen gefährlichen Denkfehler.
Von der Unmöglichkeit der Zerstörung der Hamas
Selbst wenn man in Deutschland behauptet, die ermordeten Kinder in Palästina gingen auf das Konto der Hamas, da sie die Zivilbevölkerung als Schutzschild missbrauche, ist die Forderung nach der Auslöschung der Hamas absurd und realitätsfern. Wohl fast jeder getötete Palästinenser hat in seiner Familie ein potenzielles Mitglied der Hamas, das auf Rache sinnt. Durch die massenhaften Morde an Zivilisten begeben sich Israel und die unterstützenden Länder in eine gefährliche Lage. Man denkt unwillkürlich an die Hydra, das Ungeheuer der griechischen Mythologie, dem mit jedem abgeschlagenen Kopf zwei neue nachwachsen.
Wenn Israel weiter so agiert, wie es agiert, wird ein Flächenbrand nicht zu verhindern sein. Das Zitat des israelischen Verteidigungsministers macht deutlich, dass Israel zu allem bereit ist:
"Was wir im Gazastreifen machen, geht auch in Beirut."
Doch das wird nicht funktionieren. Die israelischen politischen Verantwortungsträger irren sich, wenn sie glauben, durch ihre militärische Stärke den Nahen Osten oder auch nur Gaza dauerhaft kontrollieren zu können. In Gaza mag das bisher unter Inkaufnahme rigider und brutaler Politik möglich gewesen sein. Doch nach dem 7. Oktober hat sich die Lage grundlegend verändert. In Bezug auf ihre militärische Macht können die Israelis die USA fragen, wie erfolgreich diese materielle Überlegenheit ist, wenn man es mit Widerständigen zu tun hat, die vom Glauben und Rachegelüsten dominiert werden.
Es besteht die realistische Gefahr einer ganz anderen Auslöschung, nämlich der Israels. Und im Zuge dessen besteht eine weitere Gefahr darin, dass die Israel unterstützenden Länder die Eskalation fortsetzen – ab einem gewissen Punkt sogar mit der berechtigten Sorge, Israel könnte von der Landkarte gestrichen werden, wenn arabische Staaten dies entscheiden. Israel und die westlichen Länder haben es zu verantworten, sollte es so weit kommen.
Es zeugt von uns alle bedrohender Arroganz und Selbstherrlichkeit, davon auszugehen, dass der Westen darüber entscheidet, wer existieren darf und wer ausgelöscht werden muss. Dieses Prinzip hat Jahrzehnte funktioniert, insbesondere die USA haben der Welt ihre Interessen diktiert. Doch spätestens seit Ausbruch des aktuellen Ukraine-Krieges hat der Aufbau einer neuen Ordnung begonnen, haben Länder, die früher stillgehalten haben, ihre eigene Stärke und ihre eigenen Interessen entdeckt. Auch im Nahen Osten hatte der Westen über Jahrzehnte seine Finger im Spiel, hat Länder überfallen, Regime Changes durchgeführt oder versucht, hat Terrororganisationen aufgebaut und finanziert.
Als "Die Anstalt" noch Satire gemacht und den Mächtigen auf die Finger geschaut hat, hat sie die Zusammenhänge in einem entlarvenden Beitrag auf den Punkt gebracht. Heute wird so getan, als sei das, was im Nahen Osten passiert, völlig losgelöst von den westlichen Mächten geschehen. Dem ist nicht so!
Letztlich ist es auch der islamistische Terror, der künstlich von den USA und der NATO erzeugt wurde, aus eigenen Interessen, und mit einem Größtmaß an Skrupellosigkeit. Erinnert sei an Madeline Albright, die auf die Frage nach 500.000 ermordeten Kindern im Irak einst sagte:
"Ja, es war den Preis wert."
Wie viele Angehörige der getöteten Kinder von damals mögen sich in der Zeit danach radikalisiert haben? Wie viele haben sich dem Terror zugewandt, um Vergeltung zu üben? Wie viele werden es nach den tausenden Toten im Gazastreifen sein?
Die Machtverhältnisse verschieben sich, überall auf der Welt. Es gibt Bestrebungen der Kooperation zwischen den Ländern, es gibt den Ansatz, auf Augenhöhe zu agieren und voneinander zu profitieren. Man wird sehen, inwieweit sich diese Herangehensweise durchsetzen und verwirklichen lässt. Und es gibt die andere Seite, die, die dem Krieg und der Eskalation zugewandt ist – die, die nach wie vor eine imperiale Machtzuschreibung sucht; die, die auf Konfrontation statt Kooperation setzt.
Und gerade diese Seite der Konfrontation wird verlieren, sie wird im besten Falle still und leise bedeutungslos werden, wenn sich die weltweiten Strukturen verändern. Im schlimmsten Fall wird sie eine gewaltsame Niederlage erleiden, bevor sie ebenfalls in der Bedeutungslosigkeit verschwindet. Nicht nur Länder wie Russland und China und Zusammenschlüsse wie die BRICS werden in Zukunft die geopolitische Lage bestimmen. Auch die schon heute fast zwei Milliarden Muslime werden ihre Rolle einfordern.
Wenn bei dieser Ausgangslage die deutsche Außenministerin davon spricht, die Hamas zerstören zu wollen, um Frieden im Nahen Osten herzustellen, kann man nur verwundert den Kopf schütteln. Baerbock und die Machthaber, die sie repräsentiert, leben in einer blutigen Scheinwelt, in der sie die Fäden ziehen. Die Realität dagegen hat jene Fäden längst durchschnitten, die Betroffenen haben es nur noch nicht bemerkt.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.