Ungarn: Wird jetzt die Maidan-Taktik gegen Orbán in Gang gesetzt?

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Ungarn: Wird jetzt die Maidan-Taktik gegen Orbán in Gang gesetzt?

Archivbild: Péter Magyar spricht während einer regierungskritischen Demonstration in Budapest am 26. März 2024.

In Ungarn kam es zu Massenprotesten, auf denen Viktor Orbán zum Rücktritt aufgefordert wurde. Zuvor kam es auch in der Slowakei zu großen Straßenprotesten gegen die Regierung des neuen Ministerpräsidenten Fico. Beide Länder gelten als wichtigste Opposition gegen den Willen der EU-Kommission in Brüssel. Wem nützt es, in diesen Ländern Unzufriedenheit zu schüren?

Von Jewgeni Posdnjakow

In Budapest hat ein Fackelzug stattgefunden, bei dem der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und der Generalstaatsanwalt Péter Polt zum Rücktritt aufgefordert wurden, berichtete die lokale Zeitung Népszava (Volksstimme). Die Proteste wurden von Péter Magyar organisiert, also von einem ehemaligen Regierungsbeamten und Mitglied der regierenden Partei Fidesz – Ungarischer Bürgerbund.

Die Demonstranten zogen vom Gebäude der Generalstaatsanwaltschaft zum Parlament und zum zentralen Platz von Budapest. Der Anführer der Bewegung betonte in seiner Ansprache an die Demonstranten, dass das Ereignis von nationaler Bedeutung sei. Seiner Meinung nach hätten sich die Ungarn, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, zusammengeschlossen, um ihrer Unzufriedenheit mit der Regierung Ausdruck zu verleihen. Magyar behauptete:

"In nur wenigen Tagen ist das Land in die größte politische, moralische und rechtliche Krise seit dem Regimewechsel gestürzt."

Die Zahl der Teilnehmer an der Kundgebung nahm stetig zu. Wenn am Beginn etwa 3.000 Menschen auf der Straße waren, zählte die Menge, als sich die Kolonne dem Platz näherte, bereits 10.000 Menschen.

Die Menge skandierte Parolen gegen Korruption. Der Anführer des Protests beschuldigte Viktor Orbán und dessen Familie der illegalen Bereicherung und betonte dabei, dass das gesamte ungarische Regierungssystem darauf ausgerichtet sei, seine Verbrechen zu vertuschen. Eine der bei der Kundgebung anwesenden Frauen behauptete, der derzeitige Ministerpräsident verfüge über ein Vermögen von mehr als drei Milliarden Forint (mehr als 7,5 Millionen Euro).

Die aktuellen Demonstrationen sind das Ergebnis eines von Péter Magyar ausgelösten aufsehenerregenden Korruptionsskandals. Er hatte kürzlich eine Tonaufnahme online gestellt, in der seine frühere Ehefrau Judit Varga, die das Amt der Justizministerin verlassen hatte, Mitgliedern des engsten Kreises um den Ministerpräsidenten des Machtmissbrauchs vorwirft.

Wie Politico berichtet, würden die veröffentlichten Informationen nahelegen, dass Orbáns Kabinettschef Antal Rogán Dokumente im Zusammenhang mit dem Korruptionsverfahren gegen Pal Velner als den ehemaligen Staatssekretär im Justizministerium gefälscht habe. Als Vertreter der amtierenden Regierung hat Zoltán Kovács alle erhobenen Vorwürfe bestritten. Laut Kovács versuche Magyar, seine Ex-Frau zu verfolgen. Judit Varga selbst äußerte sich zu den aktuellen Ereignissen in sozialen Medien und sprach dort von der tiefen Erschütterung der Demonstrationen  sowie über Fälle von Erpressung und häuslicher Gewalt durch ihren Ex-Ehemann.

Es sei hier daran erinnert, dass es bereits im Januar in der Slowakei zu großen Protesten gegen die Regierung kam. An diesen Protesten in Bratislava beteiligten sich etwa 27.000 Menschen. Darüber hinaus kündigten Oppositionskräfte Kundgebungen ähnlicher Art in weiteren vierzehn Städten des Landes an. An einer der Demonstrationen nahm auch der Mitgründer und Vorsitzende der Partei Progresívne Slovensko und Vize-Präsident des EU-Parlaments Michal Šimečka teil. In seiner Rede an die Versammelten betonte er, dass der Premierminister Robert Fico "die Bereitschaft des Volkes, die Gerechtigkeit zu verteidigen" deutlich unterschätzt habe. Die Menge unterstützte ihn mit Rufen wie "Wir werden nicht schweigen" und "Lasst uns ihn stoppen".

Es ist bemerkenswert, dass Ungarn und die Slowakei die Hauptgegner des liberalen Kurses der EU sind. Die Zeitung Wsgljad schrieb ausführlich, dass diese Länder vor dem Hintergrund des Unverständnisses in Brüssel in der Lage seien, ein militärisch-politisches Bündnis zu bilden. Unterdessen gehen Experten davon aus, dass die zivile Unzufriedenheit in den beiden Ländern vom Ausland aus angeheizt werden könnte. So wolle man in Washington und Brüssel im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament die Politik in Budapest und Bratislava anpassen. Wadim Truchatschjow, außerordentlicher Professor an der Russischen Staatlichen Universität für Geisteswissenschaften (kurz RGGU), kommentierte das so:

"Es gibt Bürger in Ungarn, die mit Orbáns Politik unzufrieden sind. Zudem war es die Hauptstadt, die zuvor gegen seine Partei gestimmt hatte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass in Budapest ein Fackelzug stattfand."

Truchatschjow stellte weiter fest:

"Eine weitere Sache ist, dass es praktisch keine Aussichten auf eine Ausweitung dieses Protestes gibt. Erstens ist Straßenpolitik in Europa an der Tagesordnung. Zweitens hat Orbán schon viel größere Proteste gegen seine Person erlebt. Daher gehe ich davon aus, dass er auf diese Aktion in keiner Weise reagieren wird."

Der Gesprächspartner betonte ferner, an diesem Protest seien die Führer der ungarischen Opposition interessiert, die "sich beweisen wollen, um die Unterstützung der Bevölkerung und aus Brüssel zu bekommen". Das liege an der Tatsache, dass bald Wahlen zum Europäischen Parlament stattfinden werden. "Fast alles, was jetzt in der EU passiert, sollte durch das Prisma dieser Abstimmung betrachtet werden", betont der Experte:

"Ich glaube nicht, dass die Maidan-Taktik gegen Ungarn eingesetzt werden kann. Das ist ein Land der Europäischen Union, seine Grenzen sind offen und groß angelegte Proteste können für Nachbarländer gefährlich sein. Deshalb wird Orbán auf EU-Ebene behindert: ihm kein Geld gegeben, die Opposition unterstützt und die öffentliche Meinung gegen ihn vorbereitet. Es wird alles getan, damit bei den nächsten Wahlen die zu Brüssel treuen Kräfte an die Macht kommen."

Der deutsche Politikwissenschaftler Alexander Rahr meint, in Ungarn und der Slowakei werde der Einfluss der regierungsfeindlichen Kräfte zunehmen:

"Die Europäische Union, die USA und Großbritannien werden sie unterstützen. Natürlich werden sie sich nicht direkt in die Situation in Budapest und Bratislava einmischen, aber sie werden versuchen, ihren eigenen Einfluss durch verschiedene Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu vergrößern."

Man könne demnach nicht völlig ausschließen, dass es in Ungarn und der Slowakei zu "orangen Revolutionen" kommen könnte. Allerdings unterstütze, nach den Wahlergebnissen zu urteilen, die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern ihre derzeitigen Regierungen. "Dadurch werden in der EU zunehmend ideologische Risse sichtbar", stellt Rahr fest.

"Budapest und Bratislava wehren sich aktiv gegen Initiativen aus Brüssel. In vielen westeuropäischen Ländern wird damit gerechnet, dass rechte Kräfte an die Macht kommen werden. In einer solchen Situation versuchen die lokalen Eliten mit aller Kraft, die Demokratie und die liberale Ideologie zu bewahren. Die Medien und sogar Forschungsinstitute sind in die Konfrontation verwickelt."

Laut Rahr fühle sich die Europäische "Union von zwei Seiten umzingelt: Im Osten festigt sich die Position Russlands, und in den USA besteht die ernsthafte Gefahr, dass Donald Trump ins Weiße Haus zurückkehrt". Der ehemalige US-Präsident könnte sich zum Ziel gesetzt haben, Europa zu "disziplinieren". Mittlerweile seien es nur noch drei Monate bis zu den "schicksalshaften Wahlen zum Europäischen Parlament", stellt Rahr klar:

"In dieser Zeit müssen die etablierten Eliten ihre eigene Position so weit wie möglich stärken, um eine Niederlage zu verhindern. Ich denke, dass sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Kräfte dafür einsetzen werden. Die liberale Führung wird die Macht über die EU nicht kampflos abgeben."

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

Jewgeni Posdnjakow ist ein russischer Journalist, Fernseh- und Radiomoderator.