„Der IS ist der Werwolf von heute“: Zeitzeuge über die Nazi-Guerilla 1945 in Sachsen - Interview

Autorius: Von Beata Arnold Šaltinis: https://de.sputniknews.com/int... 2020-04-02 07:09:00, skaitė 878, komentavo 0

„Der IS ist der Werwolf von heute“: Zeitzeuge über die Nazi-Guerilla 1945 in Sachsen - Interview

Am 1.April 1945 verkündet ein SS-Offizier den Schülern im erzgebirgischen Altenberg die Gründung des „Werwolfes“. Zuvor waren die Jugendlichen schon zum Wehrdienst verpflichtet worden. „Meine Schulkameraden und ich wurden missbraucht“, so Christoph Adam zu den letzten Kriegstagen. Der „Werwolf“ sollte Terror verbreiten - das hatte Konsequenzen.

Fünfzehn Lenze jung war Christoph Adam Ostern 1945. Gerade hatten er, sein dreijähriger Bruder und die Eltern die Schrecken des Feuersturms von Dresden erlebt. Die Familie war wegen der anglo-amerikanischen Bombardements aus ihrer Heimatstadt geflohen und schließlich in Altenberg angekommen. Dort erlebte Adam die letzten Tage des Zweiten Weltkrieges – von einem letzten Aufbäumen der Nazis bis zum Einmarsch der Sowjetarmee im Mai.

Kindersoldaten für den Führer

Schon im März habe der junge Adam nach seiner Flucht aus Dresden wieder „regelmäßig“ die Oberschule in Altenberg besucht. Am Sonntag, den 25. März 1945 erfolgte dort in seiner „Grenzlandschule“ in einer besonderen Veranstaltung die Verpflichtung der Jugend zum Wehreinsatz.

„Wir Schüler waren ab sofort Kindersoldaten!“, so der heute 90-Jährige im Gespräch mit Sputnik. Der pensionierte promovierte Geologe lebt heute wieder in seiner Heimatstadt Dresden.

Schießübungen und Schützengräben ausheben

Damals vor 75 Jahren in Altenberg habe die Verpflichtung zur Wehrpflicht große Auswirkungen auf die Jugendlichen gehabt, berichtet er: „Das bedeutete für uns Schüler ab April in der Früh drei Stunden Unterricht und dann am Nachmittag Schießübungen mit Militärflinten. Geschossen wurde mit scharfer Munition, es gab nämlich keine Übungspatronen. Und den Rückstoß spürten wir bei jedem Schuss, wir leichten Knaben.“

Zudem seien sie zum Ausheben von Schützengräben nördlich der Fernverkehrsstrasse zwischen Bahnhof und „Hirschsprung“ eingesetzt worden. Zuweilen kamen Jagdflieger und beschossen sie: „Es müssen englische Tiefflieger gewesen sein. Die flogen flach über dem Wald westlich des Altenberger Bahnhofs und ballerten einfach los.“ Die Jugendlichen befanden sich auf einem freien Feld, erinnert sich Adam, vereinzelt habe es Bäume und Buschwerk gegeben, die mussten bei Fliegerbeschuss als Schutz dienen, ganz spontan, denn warnende Sirenen gingen schon lange nicht mehr los.

Es war Ostern und bis zum 4. April eigentlich Osterferien, jedoch nicht für die Jungs im Wehrdienst. Dennoch habe sich Adam ein paar Tage „entfernt“ und war zu Bekannten nach Glashütte gereist, und an Karfreitag, dem 30.März, habe er sogar noch mit seiner Mutter und der Großmutter den Festgottesdienst in der alten Kirche an der Pinge, dem Bergbaugebiet in der Gegend, besucht, erinnert er sich. Das erste Heilige Abendmahl seit seiner Konfirmation sei es gewesen. Am Ostersonnabend traf dann Vater Adam in Altenberg ein. Der war bis dato für Aufräumarbeiten in Dresden eingesetzt.

Verkündung der Gründung vom „Werwolf“

Und zum Ostersonntag, erinnert sich Christoph Adam, am 1. April, wurde im Ort die „Gründung des Werwolf“ verkündet. Schon Ostermontag habe es viermal Voralarm gegeben und einen Tag später schon habe sich der Vater in Dresden beim Volkssturm melden müssen. Für den jungen Adam begann am 4. April der „Wehreinsatz“, im Grunde genommen war es Hitler-Jugend-Dienst nur eben mit Schießübungen. Er habe sich, soweit es ging „verdünnisiert“, denn nachdem der Vater fort war, sei er „der Mann im Hause“ gewesen und musste zusehen, Bruder und Mutter sicher zu wissen.

Doch der Tag, an dem der „Werwolf“ verkündet wurde, blieb Christoph Adam im Gedächtnis, denn ein hochrangiger SS-Offizier war aus Berlin angereist. Harry Schmidt, so war sein Name, das habe sich sein Schulfreund gemerkt, so Adam, war extra nach Altenburg gekommen.

SS-Offizier Schmidt bestätigte für alle Oberschulen die Verpflichtung zum Wehrdienst, und außerdem verkündete er für einen geschlossenen Klassenverband eine gesonderte Abordnung: Die Jugendlichen waren im Rahmen der Kinderlandverschickung aus Berlin in Altenberg und wurden nun allesamt zu einer Motorradstaffel abgeordnet. Die gesamte Parallelklasse sei so gen Böhmen gefahren, so Adam, von denen habe er dann nie mehr etwas gehört. „Viele sind wahrscheinlich umgekommen“, so Adam.

Tohuwabohu und vollkommen verblendet

„Für uns als Kinder war nichts klar“, erinnert er sich, „das war alles Tohuwabohu, wir waren auf das angewiesen, was an Aushängen stand, was uns die Erwachsenen erzählten, wir hatten keine Radios oder ähnliches und wussten schon gar nicht, wie es tatsächlich um den Frontverlauf und vorrückende Sowjetische Truppen stand, und was der Werwolf bedeutete, verstanden wir auch nicht so recht. Bis zuletzt sollte die Fahne hochgehalten werden, im Glauben an das Reich: wir waren vollkommen verblendet.“

Wie beim Islamischen Staat

Der „Werwolf“ war, und davon hätte er keine Ahnung gehabt seinerzeit, eine NS-Organisation, die gegründet wurde, um noch während und nach dem Krieg „Terror zu führen, geradewegs so, wie wir es heute vom Islamischen Staat (IS)* wissen.“ Der Werwolf habe die Funktion gehabt, neben dem Heer, also der Wehrmacht Anschläge zu verüben, im Untergrund aktiv zu sein.

„Und wir Jugendlichen sollten mitmachen, aber viele haben sich auch, verblendet durch die Dinge, die uns eingebläut worden waren, auch freiwillig gemeldet. Geradewegs so, wie die Kinder und Jugendlichen, die dem IS zulaufen, bewaffnet werden und wie sie Terroranschläge vollführen und denken, sie tun Gutes damit. Viele Jugendliche waren damals wie sie verblendet und einer Gehirnwäsche unterzogen worden. Die Instrumentalisierung der Jugendlichen und Kinder - das war Missbrauch“, so Adam.

In Unkenntnis um das heranrückende Kriegsende

Denn als Jugendlicher habe man mitnichten damals den Überblick haben können – „wir wussten ja über die Ursachen des Krieges nichts, wir wurden von Anfang an belogen. Man bekommt als Kind gar nicht so viel mit, und die Eltern haben sich natürlich nicht getraut, uns was zu sagen, denn sonst wären sie womöglich im KZ gelandet. Es herrschte ein unvorstellbarer Druck. Wir haben vieles von dem Propaganda-Unsinn, wie etwa von den Wunderwaffen und mehr geglaubt, während der Generalfeldmarschall Schörner sich schon abgesetzt hatte, also Fahnenflucht begangen hatte.“ Ferdinand Schörner, der letzte Oberbefehlshaber des Heeres, war auch für den Rückzug aus den Ostgebieten zuständig. Ein Freund habe Adam erzählt, dass der Mann sich ein Flugzeug nach Zinnwald bestellt hatte und schlicht vor den vorrückenden sowjetischen Truppen geflohen sei, derweil viele seiner Soldaten noch bewaffnet in den Wäldern ausharrten und ebenfalls nichts vom nahenden Kriegsende wussten.

Terror in Altenberg

Auch den Aktionismus des Werwolfes gab es noch bis in den Mai hinein: Da war der Krieg schon längst zu Ende, erinnert sich der Dresdener.

Der Sohn von Bürgermeisters Hielscher, Johann, habe noch am 9. Mai drei Panzerfäuste versteckt gehalten. „Die Russen“ seien längst friedlich in Altenberg eingezogen, so Adam, es habe auch keinen Widerstand seitens der Altenberger gegeben, obgleich der Oberbürgermeister noch kurz zuvor in Goebbels-Manier eine Brandrede gehalten habe, in der er verkündete, der Führer sei den Heldentod gestorben, man würde Berlin halten, und: „Wer die Weiße Fahne schwenkt, wird vom Volkssturm aufgehängt.“ Da wurde noch immer Hass und Angst geschürt, erinnert er sich an die Zeit. Und auch in den letzten Tagen hätten sich noch freiwillig junge Menschen zur Armee gemeldet.

Und so kam es, dass der Sohn des Bürgermeisters nach Abschluss des Waffenstillstandes mit den Panzerfäusten einen Führungspanzer der Sowjetarmee am Kahleberg südwestlich von Altenberg in die Luft schoss. Er sei daraufhin mit Spaten erschlagen worden.

Doch die Tat forderte noch weiteren Tribut: Die Stadt Altenberg sollte eingeäschert werden, erinnert sich Adam. „Soldaten der Roten Armee gingen von Haus zu Haus und forderte die Bewohner auf: 'Ein, zwei Tage Wald gehen!', wir sollten also die Stadt verlassen“. Menschenleer wurde die Kernstadt Altenberg mit ihren 142 Häusern mit Benzin angezündet und niedergebrannt, danach noch mit Geschützsalven beschossen, bis sie in Schutt und Asche lag.

„Hätte der Sohn des Bürgermeisters nicht seinen terroristischen Anschlag verübt, würde Altenberg mit seinen schmucken Häusern heute sicher noch genauso dastehen, wie vor dem Kriege“, meint Adam.

Christoph Adam selbst hat seit Kriegsende 1945 nie wieder eine Waffe in die Hand genommen und engagiert sich, die schrecklichen Erinnerungen an den Krieg auch jüngeren Generationen nahezubringen – als Mahnung.

*Terrororganisation, in Deutschland und Russland verboten.