Autorius: Von Wolfgang Bittner Šaltinis: https://de.sputniknews.com/kom... 2020-10-18 01:08:00, skaitė 1086, komentavo 0
Der Volkswirt und ehemalige Leiter der Planungsabteilung bei den Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt, Albrecht Müller, hat im Westend Verlag ein neues Buch mit dem Titel „Die Revolution ist fällig – Aber sie ist verboten“ veröffentlicht, in das er seinen großen Fundus an Erfahrungen und Wissen eingebracht hat. Während Politikerinnen wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Annegret Kramp-Karrenbauer in der Sprache des Kalten Krieges Aufrüstung, Abschreckung und eine Politik der Stärke propagieren, plädiert Müller für die Selbstverständlichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der Menschen und der Völker. Er beruft sich auf Friedenspolitiker wie Gustav Heinemann, Willy Brand und Egon Bahr sowie auf das Grundsatzprogramm der SPD von 1990.
„Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“, hieß es damals in Fortsetzung der Forderung der Verfolgten des Naziregimes „Nie wieder Krieg!“. Das führte zu Abrüstungsgesprächen mit der Sowjetunion, zur Verständigung mit Polen und schließlich zur Beendigung des Kalten Krieges und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Vielen Politikern war damals bewusst, dass die Menschheit „nur noch gemeinsam überleben oder gemeinsam untergehen“ kann, und dass Friedenspolitik die Vorherrschaft militärischer, bürokratischer und rüstungswirtschaftlicher Interessen brechen müsse. In den 1970er-Jahren wurden zur Zeit der sozial-liberalen Koalition zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht, die diesen Namen verdienten.
Was ist aus den wegweisenden Vorstellungen und Forderungen geworden? Albrecht Müller schreibt: „Stattdessen haben wir es mit Restauration und Rückschritt zu tun.“ Er zählt auf:
„Wir rüsten nicht ab, sondern auf (…). Der INF-Vertrag zum Verzicht auf landgestützte Mittelstreckensysteme wurde 2018 von den USA gekündigt (…). Das Militärbündnis Nato dient nicht der Kriegsverhütung. Es führte und führt Kriege (…). Auch die Bundeswehr ist in Interventionskriege des Westens verstrickt (…). Deutschland ist nach wie vor eine wichtige militärische Basis anderer Staaten, vor allem der USA (…).“
Müller beklagt die auf Konfrontation ausgerichtete Hetze gegen Russland und China sowie das systematisch aufgebaute „Feindbild Putin“. Die Kriegsgefahr wachse auch hierzulande, Deutschland sei im Falle eines Konflikts zwischen Ost und West zentral gefährdet, und nur Ignoranten und Träumer schlössen das aus. Die Ursachen sieht der Autor unter anderem darin, dass fast alle politischen Organisationen in Deutschland einschließlich der Parteien unterwandert seien und den Direktiven aus Washington folgten. Und er nennt auch Namen von „Einflussagenten“ der USA, zum Beispiel Angela Merkel, die 2003 in einem Artikel für die „Washington Post“ für eine Beteiligung Deutschlands am Irak-Krieg eintrat, und zwar gegen die Haltung der Regierung Schröder – ein „ungeheuerlicher Vorgang“, wie Müller konstatiert.
2019 hat Merkel dann die russophobe Ursula von der Leyen in die Position der EU-Kommissionspräsidentin gebracht und die Nato-Propagandistin Annegret Kramp-Karrenbauer auf den Platz der deutschen Verteidigungsministerin. Als Einflussagenten bei der Militarisierung nennt Müller beispielsweise Norbert Röttgen, Katrin Göring-Eckhard, Marieluise Beck, Cem Özdemir und Annalena Baerbock. Zur Teilprivatisierung der Altersvorsorge fallen die Namen von Finanz- und Wirtschaftslobbyisten wie Bert Rürup, Walter Riester, Axel Börsch-Supran, Bernd Raffelhüschen, Hans-Werner Sinn und Meinhard Miegel.
Der Einzug der neoliberalen Ideologie und Praxis habe eine grundlegende Umorientierung nicht nur in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bewirkt, erklärt Müller, sondern darüber hinaus eine Umwandlung der Gesellschaft. Das Schleifen des Sozialstaates mit umfangreichen Privatisierungen, der Einführung von Hartz 4, zunehmender Leiharbeit, befristeten Arbeitsverträgen, Abschaffung von volkswirtschaftlich sinnvollen Regeln für den Finanzmarkt und anderen „Grausamkeiten“, habe nach Einschätzung Müllers die Demokratie der Auflösung preisgegeben. Der Verfassungsgrundsatz, alle Staatsgewalt gehe vom Volke aus, sei außer Kraft gesetzt worden, weil die Staatsgewalt inzwischen vom Großen Geld ausgehe.
Lebensunsicherheit und Angst, Egoismus statt Empathie grassierten und machten es den Regierenden leicht, mit der Bevölkerung nach Belieben umzugehen.
Die vage Andeutung eines Auswegs geht in Richtung einer neuen Solidarität, eines Aufbruchs, wie er 1968 die Studenten und vorübergehend große Teile der Gesellschaft erfasste.
Für die Auswirkungen des Neoliberalismus bringt der Autor zahlreiche Beispiele, und als einen Hauptvertreter nennt er den potenziellen Kanzlerkandidaten Friedrich Merz, der von 2016 bis 2020 Aufsichtsratsvorsitzender und Lobbyist für BlackRock in Deutschland war. Entscheidungen zur Entlastung der Kapitaleigner hätten dazu geführt, dass internationale Finanzkonzerne viele deutsche Unternehmen übernommen haben und noch übernehmen werden. So der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock, der „einen Teil der Ressourcen Europas für sich abgreifen“ will, wie auch die anderen, zumeist US-amerikanischen Finanzkonzerne, die inzwischen Anteile an allen deutschen DAX-30-Unternehmen halten.
Dadurch, dass Albrecht Müller Namen von Verantwortlichen für politische Fehlentwicklungen nennt, bekommt seine Fundamentalkritik ein Gesicht. Das ist mutig und wird ihm die üblichen Diffamierungen einbringen, worauf er allerdings gefasst ist, wie er schreibt: Vermutlich die „Stigmatisierung mit dem Etikett Verschwörungstheorie“. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, rechnet ab. „Überall stinkt es. Wo man hinschaut“, schreibt er und fährt fort:
„Und das Volk ist müde geworden. Das ist verständlich. Der Betrug an uns und unseren Erwartungen und Leistungen zur Beendigung der Konflikte in Europa hat ja wohl bei der Mehrheit der Menschen den Eindruck hinterlassen, dass man eh nichts machen kann (…).“
Dazu kommt Müllers Einschätzung: „Der Kampf der Etablierten gegen die aufkeimende Kritik ist noch nicht entschieden. Allerdings zeichnet sich deutlich ab, dass die großen Vermögen, die ihnen zugeneigte Politik und Medien kombiniert mit staatlicher Gewalt die Oberhand behalten könnten.“ Die Parteien sieht der Autor zu einer Vereinigung von Karrieristen verkommen. Zuzustimmen ist ihm auch in seiner Einschätzung, dass die EU, wie sie sich seit der Finanzkrise entwickelt hat, „kaputt“ ist. Dementsprechend schließt das Buch mit der bitteren Erkenntnis: „Insgesamt keine guten Aussichten. Es bleibt die Hoffnung.“
Das klingt defätistisch, aber Albrecht Müller wäre nicht der Realpolitiker mit Visionen, wenn es dabei bliebe. Zuvor macht er zur „Rettung des Versprechens des Grundgesetzes, dass alle Macht vom Volke ausgehen soll“ und für „einen langen Weg zu einer Neuen Gesellschaft“ wesentliche Reformvorschläge:
„(…) Korrektur der einseitigen und ungerechten Vermögensverhältnisse, die Korrektur der publizistischen Macht weniger Medienkonzerne, die Wiederherstellung von Markt und Wettbewerb und die Befreiung aus der Vormundschaft der USA.“
In mehreren Kapiteln seines Buches, in denen Albrecht Müller auf diese Problemkreise genauer eingeht, gibt er auch Hinweise für mögliche positive Veränderungen. Das macht dieses Buch wertvoll und könnte letztlich doch Hoffnung auf eine gesellschaftliche Umorientierung geben.
Bei aller Zustimmung kann allerdings – nebenbei angemerkt – eine fehlerhafte historische Sichtweise nicht unwidersprochen bleiben. In Zusammenhang mit der Anerkennung der am Ende des Zweiten Weltkrieges gezogenen Oder-Neiße-Grenze ist die Rede von den „sogenannten Ostgebieten (…), die in den Augen vieler Deutscher als Deutsch galten“ (Seite 74). Dabei übersieht Müller in seiner selbstverständlich zu befürwortenden Versöhnungsbereitschaft zu Polen, dass Schlesien, Ostpreußen, Pommern und Teile Ostbrandenburgs jahrhundertelang zu Deutschland gehörten und etwa ein Drittel des deutschen Staatsgebietes ausmachten. Aber darauf weiter einzugehen, ist hier nicht der Ort.
Albrecht Müller, „Die Revolution ist fällig – Aber sie ist verboten“, Westend Verlag, Frankfurt am Main 2020, 192 Seiten, 16 Euro
Erstveröffentlichung bei KenFM: kenfm.de